Therapie

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14.11.2022

Zukunftsmarkt Diabetes

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Teil 6: Best Practice Bewegungstherapie – Ausdauer- und Krafttraining

Leitlinienempfehlungen sind die eine Seite – individuell abgestimmte Bewegungsprogramme die andere Seite. Bei Diabetikern wie Peter spielen die Komorbiditäten eine große Rolle, weshalb hier eine auf den Patienten abgestimmte Bewegungstherapie außerordentlich wichtig ist. Ein Praxisbeispiel von Christoph Anrich.

Wir lesen und hören überall, dass wir uns drei Mal wöchentlich mindestens 60 Minuten aerob bewegen und zudem zwei Mal wöchentlich die Muskeln kräftigen sollten. Diese allgemeinen Empfehlungen sind bei Personen wie Peter jenseits jeder Realität. Die Organe wie Herz, Niere, Leber, Darm oder Pankreas und die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems mit den entsprechenden Blutwerten sind Indikator für die individuelle Trainierbarkeit.

Als Bewegungstherapeut sollte ich wissen, welche Bewegungsmodalität – Ausdauer, Kraft, HIIT, Beweglichkeit, Vestibularmotorik – in welcher Dosierung zu den gewünschten Anpassungsprozessen führt. Dabei kann man die Reaktionen für Organe definieren. Wenn Organe teilweise erkrankt sind, wirkt sich das auf die Trainierbarkeit und damit auf die Inhalte der Bewegungstherapie aus. Je mehr medizinische Indikationen hinzukommen, desto präziser muss man die Bewegungstherapie auf diese veränderten Rahmenbedingungen abstimmen.

Was ist mit HIIT als Training?

Im Fitnessbereich kam in den letzten Jahren das HIIT auf, weil man dabei zeitsparend und effektiv einen Trainingsreiz setzen kann. Ebenfalls in der Sportmedizin konzentrieren sich etliche Studien auf therapeutische Chancen des HIIT. Bei Personen, die Diabetes haben, liegen fast immer weitere Komorbiditäten vor.

Diese Patienten können das sportive HIIT überhaupt nicht sinnvoll ausführen oder es ist aufgrund von Kontraindikationen manchmal verboten. Da das HIIT allerdings spezifische Anpassungsprozesse begünstigt, die therapeutisch wirkungsvoll sind, weil sich beispielsweise Entzündungen verringern lassen, habe ich Varianten kreiert, die auch mit der Krankheitslast von Diabetes mellitus trainiert werden können. Diese Übungsformen werden durch das D im Anhang des HIIT als „HIIT-D“ gekennzeichnet.

Bewegung muss ein Lebensprinzip werden. Am Anfang war ich zufrieden, wenn es Peter schaffte, zwei bis drei Mal wöchentlich die moderate Ausdauerbewegung umzusetzen. Zunehmend stellten wir ein Setting aus verschiedenen Bewegungsmodalitäten zusammen. Wesentlich dabei war die Einbeziehung von Peter. Da er gerne ins Hallenbad zum Schwimmen ging, wurde das Element Wasser häufiger für die Bewegungstherapie genutzt.

Ich habe jedoch auch einen Patienten, der aufgrund einer Komplikation einen künstlichen Darmausgang hat. Für ihn hingegen kommen Übungen im Wasser überhaupt nicht infrage. Nachdem die Trainierbarkeit sich bei Peter deutlich verbesserte, versuchten wir, jeden Tag Bewegungseinheiten mit besonderen Bewegungsmodalitäten zu etablieren. Dabei halfen manchmal kleine Tipps: Mache diese HIIT-D Übungen 15 Minuten vor dem Mittagessen. Bei unseren Nordic Walking Runden hatten wir immer Traubenzucker dabei und Peter trug eine Pulsuhr. Peter kontrollierte regelmäßig seinen Blutdruck. Je nachdem, wie Peter gegessen hatte, gab es „normale“ Komplikationen.

Die Rolle der Mahlzeiten

Peter hat einmal vor unserer Walkingrunde das Essen ausfallen lassen. Irgendwann wurde ihm etwas schwindlig. Nachdem ich gefragt hatte, was er gegessen hätte, kam erst heraus, dass er das Mittagessen ausfallen ließ. Nachdem wir daraufhin etwas Traubenzucker nahmen und er auch etwas getrunken hatte, konnten wir die geplante Runde vollständig in unserem Tempo gehen.

Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen, wie wichtig die Abstimmung der Ernährung mit dem Bewegungsprogramm sein kann. Bei unserer Bewegungstherapie wurde Peter schlecht und er musste sich übergeben. Ebenfalls war die Lösung verblüffend einfach. Peter hatte bis direkt vor unserer Bewegungstherapie ordentlich gegessen. Der Körper war mit Verdauung beschäftigt. Die zusätzliche aerobe Belastung führte zum Missbefinden. Nachdem Peter sich übergeben hatte, setzten wir unsere Bewegungstherapie vollständig wie geplant um. Wir stimmten daraufhin die Ernährung, wann und was Peter essen und trinken soll, mit der Bewegungstherapie deutlich besser ab.

Medizinische Untersuchungen nicht vernachlässigen

Es ist immer sinnvoll, wenn vor der Bewegungstherapie eine ärztliche Untersuchung die wichtigsten Belastungsparameter überprüft und ggf. die Belastungsintensitäten darüber definiert werden. Die Ergospirometrie gehört zum Goldstandard. Allerdings wird dabei übersehen, dass Diabetiker mit Komorbiditäten diese Belastungen kaum oder sogar gar nicht hinbekommen, weil man ganz sensibel mit geringer Intensität einsteigen muss. Die Sportmedizin hat im Bereich Bewegungstherapie bei Diabetes noch zu wenige Experten, die sich damit hinreichend auskennen.

Die Nieren- und Diabeteswerte von Peter verbesserten sich über Monate stetig. Erstaunlicherweise haben die Fachärzte ein Organ dabei ganz aus den Augen verloren, die Leber. Als seltsame Symptome sichtbar wurden, habe ich Peter in die Uniklinik geschickt. Dort wurde dann leider Leberkrebs diagnostiziert. Ärzte achten häufig auf die gestellte Diagnose und übernehmen diese, ohne selbst weitere Untersuchungen durchzuführen. In der Medizin ist das Zusammenwirken aller Organe immer entscheidend. Ich war traurig und betroffen, denn ich hatte Peter zuvor bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Leberwerte fehlen. Die Prävalenz von Leberkomplikationen war bei Peter sehr hoch.

Die Bewegungstherapie ist ökonomisch sehr interessant, weil über 8,7 Millionen Menschen an Diabetes erkrankt sind. Noch mehr sind in Deutschland adipös und viele haben Bluthochdruck und/oder eine NAFLD (nichtalkoholische Fettlebererkrankung).

Ich persönlich will den Menschen in erster Linie helfen. Doch es ist legitim, wenn Anbieter und Praxen den wirtschaftlichen Nutzen anstreben. Auf jeden Fall sind Patienten über qualifizierte therapeutische Unterstützung sehr dankbar.

Christoph Anrich


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